Die Polyvagaltheorie zur Selbsthilfe bei Trauma, Angst, Panik und Depression
Sandra Hintringer ist Physiotherapeutin und Osteopatin und zusätzlich noch Traumatherapeutin (NARM®, Somatic Experiencing®, Traumasensibles Yoga) - eine sehr gute Kombination, wie ich finde - das hat mich motiviert, noch ein Buch zur Polyvagaltheorie zu kaufen.
Das Buch erklärt das autonome Nervensystem und seine unterschiedlichen Zustände, sowie Traumata und die Folgen für das Nervensystem. Es regt dazu an, einen inneren Beobachter zu entwickeln und die Symptome der autonomen Zustände bei sich und anderen zu erkennen. Und es bietet Körperübungen, mit denen man das Nervensystem selbst regulieren kann und damit Zustandswechsel vollbringen kann.
Die Polyvagal-Theorie
Vor Stephen Porges hat man das autonome Nervensystem mit Sympathikus und Parasympathikus erklärt, die sich antagonistisch gegenüberstehen. Stephen Porges hat herausgefunden, dass der Parasympathikus 2-teilig ist und wir hauptsächlich 3 autonome Reaktionsmuster haben, mit denen das Nervensystem unentwegt für unsere Sicherheit sorgt.
- Der ventrale Vagus - das System für soziale Verbundenheit
- Der Sympathikus - das System für Kraft, Abwehr, Handeln
- Der dorsale Vagus - das Not-System für Schockstarre oder Unterwerfung
Das System für soziale Verbundenheit
Das System für soziale Verbundenheit finde ich besonders wichtig, darum habe ich das hübsche Bild vom Buch-Cover zur Erklärung etwas abgewandelt. Die Plänzchen auf dem Buch-Cover symbolisieren die Hirnnerven, doch sie sind anatomisch nicht ganz korrekt platziert:
Das soziale Nervensystem besteht neben dem ventralen Vagusnerv, der über Rachen und Kehlkopf zum Herzen und den Bronchien führt, noch aus weiteren Hirnnerven. Diese gehen zu den Augen, zu den Ohren, Steuern die Mimik, die Kiefermuskulatur und nach hinten Richtung Nacken verläuft noch einer.
Wenn diese Nerven funktionieren, wir dieses System aktiv haben, dann ist der Körper entspannt, kann sich regenerieren. Wenn nicht … dann tragen wir vielleicht Brille, nachts eine Beißschiene, die Ohren klingeln oder der Nacken ist völlig verspannt.
Dieses Nervensystem springt an, wenn wir entspannte Menschen treffen, die wir mögen und auch bei Augenübungen, Kiefer-Lockerungsübungen, Kopfdrehungen, summen und singen, … also die Arbeit an jedem einzelnen dieser Nerven, kann das ganze System wieder „zum blühen“ bringen. Dann funktioniert das Immunsystem gut und der Körper kann die unterschiedlichsten Krankheiten selbst heilen. In diesem Zustand gelingen zwischenmenschliche Kontakte, unterschiedliche Bedürfnisse werden berücksichtigt, Konflikte verbal gelöst.
Der Sympathikus
Der Sympathikus verläuft an der Wirbelsäule und liefert uns täglich die Energie zum Handeln. Wenn er sehr aktiv ist, schaltet er das soziale Nervensystem ab und bei Gefahr den Kampf- oder Flucht-Modus an. In Stress und ständiger Aufregung kann der Sympathikus in der Übererregung hängen bleiben, dann verschleißt der Körper schneller als nötig und die sozialen Beziehungen verschlechtern sich deutlich.
Der dorsale Vagus
Der dorsale Vagus verläuft unterhalb des Zwerchfells und kann uns in Schockstarre, Dissoziation und Unterwerfung versetzen. Das passiert autonom, wenn kämpfen oder fliehen nicht möglich ist, wir uns einer Gefahr ohnmächtig ausgeliefert fühlen. Dieser Nervensystemzustand kann zu depressiven Zuständen führen, die ohne diese Kenntnisse jahrelang anhalten können und dann auch noch von Ärzten medikamentös behandelt werden - Katastrophe. Darum soll sich dieses Wissen schnell verbreiten! Der Weg hier heraus, geht über den Sympathikus und eine gehörige Portion Wut - am besten in Begleitung mit Menschen, die selbst gut reguliert sind.
Erstrebenswert ist ein flexibles Nervensystem, das zwischen verschiedenen Zuständen wechseln kann und nach einer Anstrengung auch wieder in den entspannten Zustand kommt.
Innerer Beobachter
In Teil 2 beginnt die Reise ins Körperinnere, dort gibt es ein 7-Tage Programm, um den inneren Beobachter zu entwickeln. Der ist notwendig, um das eigene Erleben mitzubekommen, etwas Distanz dazu zu erreichen und um steuernd eingreifen zu können, um nicht unnötig lange in den unguten Zuständen zu verweilen. In 7 Tagen ist das nicht erledigt. Das kann man wiederholen, bis es selbstverständlich geworden ist.
Körperübungen
Im 3. Teil des Buchs gibt es regulierende Körperübungen. Diese sind aufgeteilt in entspannende Übungen, um den Sympathikus runter zu regulieren und in anregende und energetisierende Übungen, falls das Nervensystem in den Shutdown geraten ist. Zum Abschluss gibt es noch Notfallübungen gegen Panik und Dissoziation. Die Übungen sind gut beschrieben und mit Farbfotos bebildert, die kann man mit der Anleitung gut nachvollziehen und sie wirken!
Das ist also auch Selbsthilfe für die, denen noch nicht bewusst ist, dass sie sie brauchen. Leute, denen schnell der Kragen platzt, die ständig unter Strom stehen und schwer bis gar nicht mehr abschalten können.
Das Buch und die darin enthaltenen Körper-Übungen sind sehr gut, ich denke das würde der traumatisierten Weltbevölkerung nun guttun. Das Buch ist ansprechend gemacht, hübsch formatiert, hat 174 Seiten und ist leicht zu lesen. Das gibt es im Buchhandel oder bei Amazon.de -> Der Vagusnerv - unser innerer Therapeut
Was in diesem Buch fehlt: Je nach Nervensystem Zustand ändern sich unsere inneren Dialoge erheblich. Also wie wir uns selbst und die Welt sehen. Wenn der dorsale Vagus überaktiv ist, ist die Welt kein schöner Ort mehr, in Sympathikus Überaktivierung ist das Leben ein Kampf. Wenn man das weiß, nimmt man die innere Stimme nicht mehr so ernst.